So. 14.1.2018
im Weingut Sandwiese Worms.
Liebe Mitglieder, liebe Gäste!
Es ist Tradition, dass der Präsident zu Beginn des neuen Jahres Gedanken zum Jahreswechsel vorträgt, die nicht zu verwechseln sind mit dem Rechenschaftsbericht, der an der Jahreshauptversammlung im März zu geben ist, Gedanken, die zurück und nach vorne blicken. Mit Rückblicken werden wir in der Zeit, die wir „Zwischen den Jahren“ nennen, geradezu überschüttet. Die Wormser Zeitung etwa listet in zwei Ausgaben nahezu alles auf, was im letzten Jahr Monat für Monat in Worms passiert ist. Wichtiges und Belangloses stehen manchmal lediglich chronologisch geordnet nebeneinander, dabei ist das, was der eine für wichtig hält, für den anderen belanglos. Die Zeitung hat es im kommunalen Bereich offenbar besonders schwer zu entscheiden, was aufzuzählen ist und was nicht und wer beleidigt ist, wenn er keine Erwähnung findet. Regional und überregional arbeitet sie da schon selektiver, wäre die Fülle an Ereignissen sonst überhaupt zu überschauen? Und woran erinnern wir uns? Eines der Bücher, das Herr Bessler unserem Literarischen Zirkel als mögliches Weihnachtsgeschenk empfohlen hat, war das Buch mit dem Titel „1967“ von Sabine Pamperrien. Ich habe es mit Gewinn gelesen und finde es spannend vor allem für den, der das Jahr 1967 bewusst erlebt hat. Es ist schon interessant, was man alles inzwischen vergessen hat, obwohl es nicht belanglos war, und an was man alles erinnert wird, unterbrochen von Informationen der Finanzierung des Haushalts der Familie eines Bahnbeamten im Jahre 1967: Zum Beispiel schlagen im Monat Januar 65,80 DM für Benzin, 2, 50 DM für das Aufladen der Batterie, 2, 80 für den Friseur zu Buche. Dbei verfügt die Familie über ein vergleichsweise hohes Einkommen von 1000 DM im Monat. Erinnern Sie sich, sofern Sie alt genug sind, dass der Boxweltmeister aller Klassen, Muhammed Ali alias Cassius Clay, wegen Wehrdienstverweigerung ins Gefängnis musste? Oder dass der Freispruch im Frankfurter Euthanasieprozess im Mai 1967 im Zuhörerraum Jubel auslöste, so dass der vorsitzende Richter mit der Räumung des Saales drohen musste? Oder dass der Freispruch des inzwischen als Mitarbeiter des MfS entlarvten Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras nach der Tötung des Studenten Benno Ohnesorg im Zuschauerraum Beifall auslöste? Oder dass Adolf von Thadden, Vorsitzender der Mitte der 60er Jahre in einigen Landtagen – auch in RLP – vertretenen NPD und Chefredakteur der „deutschen Nachrichten“ hat durchgehen lassen, dass Heinrich Heine nicht der größte deutsche Lyriker seit Goethe sein könne, „da Lyrik noch mehr als jede andere dichterische Gattung Ausdruck des Nationalcharakters und der Volksseele“ sei, Heine aber Jude sei. Lang ist es her und wenn man es liest, erinnert man sich nur noch dunkel. Doch 50 Jahre, was ist das schon? Oder gehen wir in der Erinnerung weitere vier Jahre zurück, in das Jahr 1963: Wissen Sie noch – vorausgesetzt, Sie sind alt genug -, dass 1949 der Niederlande 69 km2 deutsches Territorium zur Auftragsverwaltung zugesprochen wurde –gefordert waren als Kriegsentschädigung 1759 km2. Das Gebiet kam dann gegen eine Ausgleichszahlung von 280 Millionen DM am 1. August 1963 an die Bundesrepublik zurück. In der Nacht ging die Grenze über die Ware, zollfreie Güter konnten nach Deutschland transportiert werden, Unternehmer mieteten Scheunen, Garagen und alles, was die Lagerung von 165 Tonnen Eiern, 758 Tonnen Butter und 335 Tonnen Erdbeerkonserven ermöglichte, die bis zum 31. Juli aus den Niederlanden eingeführt wurden bzw. in den Selfkant gebracht wurden, der über Nacht deutsch wurde. Ich war damals kurz vor Vollendung des 17. Lebensjahrs und hatte bereits ein Schüler – Abonnement der Wochenzeitung „Die ZEIT“, aber ich erinnere mich zwar noch als kindlicher Briefmarkensammler an die Rückkehr des Saarlands 1957, aber daran nicht mehr, obwohl man älteren Menschen nachsagt, zumindest ihr Langzeitgedächtnis funktionieren noch gut.
Wir sind die Treibenden, aber den Schritt der Zeit, nehmt ihn als Kleinigkeit im immer Bleibenden, so heißt es in dem Gedicht von Rainer Maria Rilke, das ich in der Einladung zu Heute zitiert habe und in unserem Kreis sicher nicht zum ersten Mal. Ich musste es als Unterprimaner einmal auswendig lernen zur Unterstützung der Abiturrede meines Griechischlehrers zusammen mit dem folgenden Sonett aus dem gleichen Zyklus und habe es bis heute nicht vergessen. Es hat mich damals so fasziniert, dass ich mir das Inselbändchen „Sonette an Orpheus“ am 22.12.1965 vom Taschengeld kaufte. Ich habe es besser im Gedächtnis behalten als die oben zitierten Dinge. Vieles sortiert das Gehirn mit der Zeit als marginal aus, wesentliches aber bleibt. Doch was ist der Schritt der Zeit, was ist überhaupt Zeit? Zeit wird verwendet als Maßeinheit für die gewaltigen Entfernungen im Raum. 300.000 km ist der Mond von der Erde entfernt, das Licht braucht dafür eine Sekunde, 8 Minuten braucht es bis zur Sonne, doch wieviel km beträgt der Abstand der 2⅟₂ Millionen Lichtjahre entfernten Andromedagalaxie von der Erde. Ich habe mal gerechnet, herauskommt ein fünfstellige Zahl mal 1016, vorstellen kann sich das keiner mehr. Was bedeutet, dass die Erde eine Kugel ist, in Bezug auf die Einteilung der Zeit, die wir dringend brauchen? Im begrenzten geographischen Erfahrungsraum der Antike war das noch einfach. Aber als Ferdinand Magellan von 1519 bis 1522 zum ersten Mal die Welt umsegelte, hat er sich schon gewundert, dass er in östlicher Richtung in Spanien plötzlich früher ankam, als er berechnet hatte. Erst im 19. Jahrhundert hat man die Datumsgrenze exakt in dünn besiedeltem Gebiet am Verlauf des 180. Längengrades im Pazifik festgelegt, so dass in West-Samoa 2018 fast einen Tag früher begann als im 50 km östlich gelegenen Ost-Samoa. Um die Natur für unseren Kalender nutzbar zu machen, müssen wir eingreifen und interpretieren. So müssen wir nicht nur Zeit definieren und gliedern, sondern auch entscheiden, was uns wichtig ist. Was aber ist für uns wesentlich, was sortiert unser Gehirn aus?
Längere Berichterstattung widmen die Zeitungen – regional, überregional und lokal – den Gedenkjahren, die nach allgemeinem Konsens der Medien jeden interessieren sollten, so hat uns das Thema 200 Jahre Rheinhessen 2016 ein Jahr lang begleitet, Dorf für Dorf wurde in der WZ vorgestellt. Die Pflege einer Erinnerungskultur ist den Medien wichtig, ist für die Gesellschaft wichtig zur Findung der eigenen kulturellen Identität. 2017 widmeten sich die Medien vor allem dem Reformationsjubiläum, von vielen nach dem Hauptakteur von 1517 als „Lutherdekade“ bezeichnet. Dekade? 10 Jahre Luther? 10 Jahre Reformation als zentrales Thema? Wer soll das aushalten? So habe ich mich in verschiedenen Gremien geäußert. Aber es wurde großartig! Es wurden ökumenische Pfähle eingeschlagen, denken Sie an die Lichtbrücke vom Dom zur Lutherkirche, an die Reden des Katholiken Norbert Lammert, wie ich sie in Bochum etwa hören durfte. Dass es ein Wagnis in einer nicht religiös orientierten Gesellschaft war, haben kritische Stimmen gezeigt. Interessierte Luther nur die Protestanten? Nun, nicht nur evangelische Theologen, sondern auch katholische Theologen und Profanhistoriker haben sich auf das Thema gestürzt, natürlich waren in Wittenberg am 31. Oktober der Bundespräsident, der Bundestagspräsident, die Kanzlerin und die gesamte Staataspitze im Gottesdienst und im Festakt präsent. Das Jubiläum wurde zentral in einer Stadt gefeiert, in der nur noch 10% der Menschen einer Kirche angehören. Sind solche Jubiläen denn so wichtig? Gerade heute? Sicher wäre viel gewonnen, wenn die Gespräche und die Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht nur zur Selbstfindung und kulturellen Standortbestimmung, sondern auch zu einem friedlichen Miteinander z.B. zwischen Konfessionen und Religionen beitragen könnten. Gerade in einer Zeit ist das nötig, in der fürchterliche Terrorbanden wie der sogenannte Islamische Staat, wie Salafisten bei vielen den Islam unter Generalverdacht bringen, bei denen Anschläge wie auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin Christian Wulffs Ausspruch, der Islam gehöre auch zu Deutschland, für viele absurd erscheinen lassen. Und doch lohnt es sich, für eine andere Welt zu arbeiten. Der französische Philosoph Albert Camus hat uns am Schluss seines Essays „Der Mythos von Sisyphos“ die Vorstellung zugemutet: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“, Sisyphos, der von den Göttern verurteilt ist, eine Ewigkeit lang einen Stein den Berg hinaufzurollen und kaum ist er oben, rollt der Stein wieder runter. Aber Sisyphos nimmt dem Kampf auf, er kämpft gegen das Absurde und in diesem Kampf selbst liegt der Sinn. Luther wird der Satz zugeschrieben: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt zugrunde geht. würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Luther hat das nie gesagt. Ein hessischer Pfarrer hat Luther im Anblick aller Zerstörung 1944 diesen Satz in den Mund gelegt, um seine Theologie zu vergegenwärtigen, für das Verstehen der Gegenwart nutzbar zu machen und Impulse zu geben. So werden wir auch 2018 „1000 Jahre Wormser Dom“ gebührend feiern und das zentrale bauliche Wormser Identitätssymbol als kulturell integrierend erleben, den Rheinland-Pfalz-Tag als fröhliches Fest, vielleicht auch noch ein bisschen Zeit finden für das 150jährige Jubiläum des Lutherdenkmals, obwohl ich sicher bin, dass mein Vortrag über eine Figur des Denkmals, nämlich Johannes Reuchlin, weniger Zuhörer finden wird als der Festgottesdienst im Dom, zumal er sich schwerpunktmäßig mit dem Erlernen des Hebräischen im 16. Jahrhundert beschäftigt. Und der Satz mit dem Apfelbäumchen ist aktueller denn je.
„Es gibt im Existieren kein Voraus, sondern nur ein Zugleich.“ Dieser denkwürdige Satz eines meiner akademischen Lehrer hat sich mir tief eingegraben. Indem ich mich mit der Vergangenheit beschäftige, nehme ich sie hinein in meine Gegenwart, schöpfe aus ihr ein Stück Deutung und Verstehen der Welt. Der Impuls, den ich aus der Vergangenheit erhalte, führt mich auch zu einem aktuellen Verstehen und einem aktuellen Bezug.
Unser Bemühen in der Kasinogesellschaft, Geselligkeit, Beschäftigung mit Literatur, das Genießen von Konzerten, die Ausrichtung und Orientierung an Tradition und Innovation steht in der beschriebenen Linie, aus der Vergangenheit, ihrer Literatur und Musik Gewinn zu saugen, zu genießen, sich unterhalten zu lassen und ein Stück Weltdeutung zu erwerben, und ich danke allen Aktiven für ihre Arbeit und dem Ältestenrat für die Unterstützung, dem Ehepaar Sippel für die Organisation der Konzerte, Ulrike Dickhaus und Eya Elbert für die des Literarischen Zirkels, Annette Kienast um Helmut Steuer für den Ausflug und die geselligen Veranstaltungen, Mathilde Grünewald für die Museumsbesuche und allen anderen die geholfen haben, das Programm zu gestalten.
Ja, auch am Neujahrsempfang ist es angebracht, angesichts der vergehenden Zeit auch an die Vergänglichkeit zu erinnern. Die Ehrung der Verstorbenen findet auf der Mitgliederversammlung statt, dennoch sei erwähnt, dass nach Dr. Otto Bickert nun auch Professor Dr. Jürgen Bosch, Günter Hüttmann, Dieter Kaiser, Dr. Ludwig Leineweber und seit letztem Dienstag auch Dr.Helmut Schmidt, die die Gesellschaft lange geprägt haben, nicht mehr unter uns sind. Ja, wir sind eine Gesellschaft mit vielen älteren Mitgliedern, wer wollte es leugnen, und deshalb froh über jedes jüngere Mitglied und jeden beitrittswilligen Gast. Die Welt verändert sich und wir in ihr. Auch unsere Gesellschaft ändert sich, wir haben unser Programm für 2018 am 11. Januar beraten, es wird wiederum für jeden hoffentlich etwas dabei sein.
Der berühmte Jungbrunnen funktioniert nicht, und wenn er funktionierte, was wäre gewonnen? Willi Schneider, ein Volkssänger, dessen Qualität ihn nicht gerade in unser Konzertprogramm bringen würde, wenn er denn noch lebte, ist berühmt geworden nicht zuletzt durch seinen Schlager: „Man müsste nochmal 20 sein!“ Wirklich? All das, was man seit dem hinter sich hat, noch einmal vor sich haben? Schon die Fortsetzung des Textes „und so verliebt wie damals“ wirft Probleme auf. Also ich habe meine Frau mit 20 noch nicht gekannt, Sie? Na ja, aber zumindest könnte man doch einiges anders machen, immer nach dem Motto: „wenn ich es nochmal zu tun hätte…“ Aber ist das nicht ein Denkfehler? Mit 20 weiß ich doch gar nicht, was ich anders machen könnte, habe ich doch noch nichts Gegenteiliges gemacht, zu dem ich einen Gegenplan entwerfen könnte, sondern ich muss mich entscheiden und binden. Insofern gewinnt unser Leben eine irreversible Gestalt. Sind wir also zuversichtlich, stellen uns den Herausforderungen für 2018 und pflanzen ein Apfelbäumchen! Natürlich in der Hoffnung, dass die Welt morgen nicht untergeht.
Es ist zu hoffen, dass das Jahr 2018, Momente historischer oder persönlicher Erinnerung das Selbstverständnis bereichern und Impulse für die Zukunft damit verbinden. Erst das Verweilende weiht uns ein, heißt es in dem in der Einladung zitierten Gedicht von Rainer Maria Rilke. Auch in einer nicht religiös orientierten Gesellschaft sei es mir erlaubt, die Bibel zumindest auszugsweise zu zitieren: Dort steht:
„Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem , was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel!
Diese Kraft wünsche ich Ihnen allen und ein gutes und vor allem gesundes neues Jahr!
Ulrich Oelschläger